Die Rezeption des Werks: zwischen Kritik und Bewunderung
Wie alles, was niemanden gleichgültig lässt, erregt die Ausstellung damals wie heute überschwängliche und kritische Reaktionen.
Schon in den 1950er Jahren ist die Rezeption zwiegespalten: einerseits die Begeisterung für die Idee der allgemeinen Zugehörigkeit zur großen Familie der Menschheit und den Aufruf zu mehr Brüderlichkeit, die angesichts der Sorgen und Ängste der Zeit von den meisten geteilt wird; andererseits die Infragestellung eben dieser Botschaft und der Ausstellungsform.
„The Family of Man“ sorgt seit jeher für viel Gesprächsstoff. Manche sind der Auffassung, die Ausstellung sei zu sentimental oder naiv und von einer allzu westlich-zentrierten Sichtweise geprägt. Andere wiederum erkennen in ihr ein komplexes und engagiertes visuelles Narrativ, das zur demokratischen Teilhabe ermutigt und als Manifest für die Menschenrechte gelesen werden kann. In den letzten Jahren ist ein echtes Umdenken in der Rezeption der Ausstellung zu beobachten: Man geht über zu einer nuancierten Reflexion über ein komplexes und zugleich leicht zugängliches Werk, das die Massen bewegt hat, weiterhin für Aufmerksamkeit sorgt und eine Botschaft vermittelt, die nach wie vor aktuell ist.
Nina Leen, Vier Generationen einer Bauernfamilie des Ozark-Plateaus posieren vor einer Wand mit Portraits ihrer fünften Generation, Bellevue, Missouri, USA, 1946, Time & Life © Getty Images
Henri Cartier-Bresson, Muslimische Frauen am Hari-Parbat-Hügel, welche die aufgehende Sonne hinter dem Himalaya anbeten, Srinagar, Kashmir, Indien, 1948 © Magnum Photos
Dmitri Kessel, Erwartungsvolle Wählerin bei der Abgabe ihres Stimmzettels zur Wahl des neuen Stadtrats, der versprach, Tignes vor einer Zwangsevakuierung und Überflutung zu bewahren, Tignes, France, 1952, Time & Life © Getty Images
Andreas Feininger, Mittagszeit in der 5th Avenue – Fußgänger drängen sich auf den Bürgersteigen der in beiden Richtungen befahrbaren 5th Avenue mit großem Verkehrsaufkommen nahe der 34th Street, New York, USA, 1948, Time & Life © Getty Images
Die Rezeptionsgeschichte sprengt den Rahmen der Ausstellung und geht weit über sie hinaus. Mit ihrem reformierten Ansatz der Fotografie weiß „The Family of Man“ eine neue Generation von Fotografen, Szenografen, Kuratoren … zu inspirieren und lässt das Vermächtnis einer vergangenen Zeit weiterleben.
Installation de l’exposition “The Family of Man” au Château de Clervaux © CNA/Romain Girtgen, 2021
Restaurierung, letzte Reisen und Aufnahme ins Weltdokumentenerbe
Auf Edward Steichens Wunsch erhält das Großherzogtum Luxemburg 1964 die letzte noch verbliebene Wanderversion der Ausstellung „The Family of Man“ von den USA als Geschenk. Der Fotograf höchstpersönlich hatte sein Geburtsland und das Schloss Clerf als den Ort auserkoren, der seine Fotosammlung definitiv beherbergen soll.
Marcel Schroeder, Edward Steichen im Innenhof des Château de Clervaux, 1966 © Photothèque de la ville de Luxembourg
Die Beziehung zwischen Steichen und Luxemburg in Bezug auf „The Family of Man“
Als sich Steichen 1952 europaweit auf die Suche nach den Aufnahmen begibt, die in seine spätere Ausstellung einfließen sollen, schlägt er vor, die von ihm geplante Reise von „The Family of Man“ um die Welt in Luxemburg beginnen zu lassen. Die Regierung lehnt ab – sie ist damals wie viele andere noch der Meinung, dass Fotografie keine Kunst ist, sondern ein Handwerk zu gewerblichen Zwecken. Erst rund zehn Jahre später tritt Steichen erneut an Luxemburg heran, und dieses Mal wird sein Angebot positiver aufgenommen. So trifft er 1963 im Weißen Haus Großherzogin Charlotte und bekennt ihr gegenüber voller Stolz „Ech sinn e Lëtzebuerger Jong.“ („Ich bin ein Luxemburger Junge.“)
Grand-Duchess Charlotte & Edward Steichen at the White House, 1963
Erst vernachlässigt, dann ab Mitte der 1970er Jahre teilweise gezeigt, wird die Ausstellung ab 1989 neu entdeckt. Sämtliche Originalabzüge der Sammlung werden auf Initiative des Nationalen Instituts für Bild und Ton (CNA) umfangreich restauriert. Eine weitere vollständige Restaurierung erfolgt zwischen 2010 und 2013.
© CNA/Romain Girtgen, 2021
© CNA/Romain Girtgen, 2021
© CNA/Romain Girtgen, 2021
© CNA/Romain Girtgen, 2021
Die Restaurierung der Sammlung
Ein letztes Mal noch geht die Ausstellung auf Reisen: ins französische Toulouse sowie in die japanischen Städte Tokio und Hiroshima – und allein hier zieht sie täglich mehr als dreitausend Besucher in ihren Bann. Im Juni 1994 lässt sie sich dann endgültig im Schloss Clerf nieder.
Das Nationale Institut für Bild und Ton
Das Nationale Institut für Bild und Ton (CNA) in Luxemburg ist ein 1989 gegründetes Kulturinstitut, das dem Ministerium für Kultur untersteht. Seine wichtigsten Aufgaben sind die Sammlung, Konservierung und Aufwertung des nationalen Foto-, Film- und Tonerbes von Luxemburg. Aktuell umfasst der Bildbestand knapp 500 000 Dokumente und zeugt vom Reichtum des fotografischen Schaffens im Großherzogtum. Die historische Sammlung „The Family of Man“ samt ihrer Restaurierung im Jahr 1989 war das erste große Projekt des CNA.
CNA Dudelange © CNA/Romain Girtgen, 2021
Die absolute Krönung: Seit 2003 gehört die Ausstellung „The Family of Man“ zum Weltdokumentenerbe der UNESCO.
Die UNESCO und Luxemburg
Die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) ist eine der Sonderorganisationen der UNO, deren Hauptziel darin besteht, „durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern in Bildung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion […] bestätigt worden sind.“ Das Welterbe der UNESCO ist in mehrere Programme unterteilt. Es enthält Listen von kulturellen und natürlichen Stätten, Dokumenten und Ereignissen (auch immaterielle wie Traditionen, Tänze, Riten, Veranstaltungen ...). Sie alle gelten als außergewöhnlich und bemerkenswert für die Menschheit und damit als ihr Vermächtnis, das es zu schützen gilt. In Luxemburg gehören die Festungsanlagen der Stadt Luxemburg und ihre Altstadtviertel zum Weltkulturerbe der UNESCO, und die Echternacher Springprozession ist als immaterielles Kulturerbe anerkannt. „The Family of Man“ zählt zum Weltdokumentenerbe. Und seit Oktober 2020 trägt die Region „Minett“ offiziell das UNESCO-Label „Man and Biosphere“.
Die Ausstellung im Schloss Clerf
Die letzte vollständige Version wird dort unter optimalen Konservierungs- und Lichtbedingungen gezeigt. Sie fasziniert weiterhin Besucher aus aller Welt in den renovierten Räumen des Schlosses, wo die zeitgenössische Interpretation mit dem Respekt ihrer Geschichte in Einklang steht.
Das Schloss Clerf
Das im 12. Jahrhundert erbaute Schloss Clerf ist ein imposantes mittelalterliches Schloss in den Luxemburgischen Ardennen. Es entsteht ursprünglich als Höhenburg auf Initiative von Gerhard von Sponheim, wird dann sukzessive von seinen Besitzern erweitert und stärker befestigt, und schließlich 1635 auf Anregung von Claudine de Lannoy-von Eltz zum Renaissance-Palast umgebaut. Ihre Nachfahren verlassen das Anwesen 1854 infolge eines Erbfolgeprozesses. Im Jahr 1888 lässt der neue Besitzer, Graf Adrien de Berlaimont, die Vorburg abreißen, was dem Gebäude sein heutiges Aussehen verleiht. Nach der Zerstörung durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wechselt das Schloss in den Besitz des Staates, der es restaurieren lässt und in einen Ort verwandelt, der heute die Gemeindeverwaltung, das Museum der Modelle der Burgen und Schlösser Luxemburgs, das Museum der Ardennenschlacht und Edward Steichens Ausstellung „The Family of Man“ beherbergt.
© CNA/Romain Girtgen
Installation de l’exposition “The Family of Man” au Château de Clervaux © CNA/Romain Girtgen, 2021
Das anhaltende Interesse an der Ausstellung beruht also auf Steichens ehrgeizigem Projekt, auf seinem Wunsch, einen universellen Zugang zum Menschen zu schaffen, auf der außergewöhnlichen Szenografie. Es basiert auch auf der Beteiligung renommierter Fotografen, Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, deren Werk heute internationale Anerkennung genießt, wie Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Robert Frank … So bietet „The Family of Man“ nicht nur ein Abbild der Welt in den 1950er Jahren, sondern auch einen unschätzbaren Einblick in die Nachkriegsfotografie, indem sie Talente offenbart und die Vorzüge und Schwächen des fotografischen Ausdrucks als Kommunikationsmittel hervorhebt.
David Seymour, Waisenmädchen beim Spielen inmitten der Ruinen ihres ehemaligen Waisenhauses, Monte Cassino, Latium, Italy, 1948 © Magnum Photos/UNESCO