„The Family of Man“, ein Porträt der Menschheit
Am 24. Januar 1955 eröffnet im MoMA anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Museums das, was viele noch heute als größtes Fotografie-Vorhaben aller Zeiten ansehen.
Mit einer völlig neuen, spektakulären und modernistischen Inszenierung will die Ausstellung ein Porträt der Menschheit zeichnen. So sind die großen Momente des Lebens in einem Raum vereint, gegliedert in 37 Themen, wie in einer Art Verzeichnis der wichtigsten Aspekte des Lebens, die allen Menschen bekannt sind: Liebe, Geburt, Arbeit, Familie, Bildung, Kindheit, Krieg, Frieden … „The Family of Man“ zeigt die Unterschiede zwischen den Menschen auf, unterstreicht aber vor allem die Universalität dessen, was sie in ihrem Leben erfahren und empfinden, wie es der Dichter Carl Sandburg im Vorwort des Ausstellungskatalogs beschreibt: „There is one man in the world and his name is All man“ – was man frei übersetzt so wiedergeben könnte: „Es gibt nur einen Menschen auf der Welt und sein Name ist Alle Menschen.“
Carl Sandburg
Dichter, Journalist und Historiker – Carl Sandburg ist eine bedeutende Persönlichkeit der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Unablässig verfolgt er das Weltgeschehen mit großer Aufmerksamkeit und interessiert sich für zahlreiche Themen. Er schreibt für diverse Zeitungen, setzt sich für Bürgerrechte ein und gewinnt drei renommierte Pulitzer-Preise in Literatur, Autobiografie und Poesie. Mit Steichen verbindet ihn die Suche nach einer universellen Darstellung der Menschheit, und so begleitet er ihn sein ganzes Leben lang, zum einen als Mitglied der Familie (er heiratet seine Schwester Lilian), zum anderen als Künstler.
Edward Steichen, Carl Sandburg Bequest of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
[‘The Family of Man’] wurde als Spiegel der universellen Elemente und Emotionen im Rahmen des täglichen Lebens konzipiert – als Spiegel der fundamentalen Einheit der Menschen.
Edward Steichen
Humanistische Fotografie
In ihrer Blütezeit zwischen 1945 und 1960 will die humanistische Fotografie das tägliche Leben präsentieren, soziale Anliegen darstellen, Arbeit zeigen, die kleinen Freuden des Alltags zelebrieren und Emotionen illustrieren. Sie gilt als „poetischer Realismus“ der Fotografie. Ist sie auch manchmal geprägt von Traurigkeit, Melancholie oder Nostalgie, so lässt sie doch vor allem so etwas wie kollektive gute Laune, Eintracht und Harmonie durchblicken. Kurzum: Es geht ihr darum zu beweisen, dass das Leben lebenswert ist … trotz allem. Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau, Sabine Weiss … sind einige der Fotografen, die diese fotografische Stilrichtung als Antwort auf den Kontext der Nachkriegszeit groß gemacht haben. Einige ihrer berühmtesten Aufnahmen – Sinnbilder der Hoffnung und des Glaubens an die Menschheit – sind Teil der Sammlung „The Family of Man“.
Henri Cartier-Bresson, Sevilla, Spanien, 1933 © Magnum
John Philips, Kind, das in der Schule einen Satz an die Tafel schreibt, Palestine, 1943, Time & Life © Getty Images
Allan Grant, USA, Time & Life © Getty Images
Lisa Larsen, Guatemala
„The Family of Man“ versteht sich als Momentaufnahme mit dem Ziel, die vorherrschenden Ängste zu verarbeiten und zu beruhigen. Sie will die Fragen ihrer Zeit beantworten, indem sie tief in ihrem Kontext verwurzelt ist, um ihn dann hinter sich zu lassen und die Zeitlosigkeit und Universalität zu erreichen, die sie anstrebt. In einer durch politische Spannungen gespaltenen Welt präsentiert die Ausstellung eine friedliche, von Humanismus durchdrungene Vision, die durch einen engagierten und demokratischen Diskurs untermauert wird.
John Florea, Schriftzug auf einem Linienbus zur Erinnerung an die unveräußerlichen Rechte der Bürger in Indonesien, Indonesien, 1945, Time & Life © Getty Images
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Im Jahr 1948 ratifizieren die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs verankert dieser Text die Grundrechte, die alle Menschen geltend machen können, ohne jedweden Unterschied, im Einklang mit der Würde und dem Wert der menschlichen Person. Er bekräftigt insbesondere das Recht, fair und gerecht behandelt zu werden, in Frieden zu leben, Zugang zu Bildung zu haben, heiraten und eine Familie gründen zu dürfen, geschütztes Eigentum zu besitzen, frei von Angst wegen der eigenen Ideen oder Überzeugungen zu sein, eine beliebige Religion auszuüben, am Leben des eigenen Landes teilzunehmen, sich frei zu bewegen, zu arbeiten und dafür angemessen entlohnt zu werden, Frei- und Ruhezeiten zu haben … Dieser Text definiert also die großen Aspekte des Lebens, die einstimmig von allen Menschen in der Welt geteilt werden. Der von Steichen bei der Konzeption von „The Family of Man“ verfolgte Ansatz ist der Charta der Vereinten Nationen derart ähnlich, dass die Bildtheoretikerin Ariella Azoulay die gesamte Ausstellung als visuelle Erklärung der Menschenrechte sieht, zumal die Pressemitteilung zur Eröffnung der Ausstellung im MoMA 1955 „eine kreative, der Würde des Menschen gewidmete Fotoausstellung“ ankündigt. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass der Epilog der Ausstellung die wesentliche Rolle demokratischer Institutionen zum Erhalt des Weltfriedens unterstreicht. Illustriert wird dies anhand der Aufnahme der Generalversammlung der Vereinten Nationen, einem der größten Bilder der gesamten Ausstellung, und der dazugehörigen, direkt aus der Charta entnommenen Bildunterschrift.
Vielfalt und Einheit: die Szenografie im Dienste der Universalität
Die Ausstellung […] beweist, dass Fotografie ein dynamischer Prozess ist, der den Ideen Form verleiht und dabei hilft, dem Menschen den Mensch zu erklären.
Edward Steichen
Mit „The Family of Man“ erforscht Steichen die Kommunikationsfähigkeit des Bildes. Er benutzt die Fotografie als universelle, weltweit verständliche Sprache und lädt die Betrachter ein, sich mit den Menschen auf den Bildern zu identifizieren und sich in sie hineinzuversetzen.
Die starke Wirkung der Ausstellung auf den Besucher liegt an ihrer Gestaltung. Der Ausstellungsplan ist in Form eines linearen, klar vorgegebenen Wegs konzipiert. Die Szenografie nimmt sich derweil ein Beispiel an der modernen Architektur: Die verschieden großen Abzüge sind in unterschiedlicher Höhe im Raum angebracht und befinden sich mitunter nicht an der Wand, sondern stehen frei im Raum oder hängen von der Decke, um den Betrachter mit einzubeziehen. Damit fordert die Anordnung die ständige Aufmerksamkeit des Besuchers und macht ihn zum Akteur seines eigenen Wegs durch die Ausstellung. Er nimmt also aktiv an ihr teil und wird zu einem integralen Bestandteil ihres Konzepts.
Installation de l’exposition “The Family of Man” au Château de Clervaux © CNA/Romain Girtgen, 2021
Installation de l’exposition “The Family of Man” au Château de Clervaux © CNA/Romain Girtgen, 2021
Eine Ausstellung wie eine Collage
Steichens Ansatz erinnert an den eines Illustrierten-Redakteurs. Zum Aufbau seiner Geschichte befreit Steichen die Aufnahmen von ihrem ursprünglichen Kontext und streicht sämtliche Titel, Daten und Ortsangaben, um sie besser in die Erzählung von „The Family of Man“ einbetten zu können. Er entscheidet über die Bildausschnitte, über ihre Größe und Anordnung, und versieht sie mit kurzen Zitaten, um eine Art Collage zu erstellen, die an das Layout eines LIFE-Magazins erinnert.
Spielen die Fotografien auch die Hauptrolle, so dienen sie doch einer übergeordneten Idee: Ihre Bedeutung liegt nicht im einzelnen Bild, sondern erschließt sich aus dem Dialog zwischen den Aufnahmen und mit ihrem Betrachter. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Steichen filmische Montagetechniken anwendet.
Installation de l’exposition “The Family of Man” au Château de Clervaux © CNA/Romain Girtgen, 2021
Die Macht der Montage: der Kuleschow-Effekt
Was Steichen bei seiner Arbeit für die Ausstellung dem Kino verdankt, ist von essenzieller Bedeutung. Er selbst hat von „The Family of Man“ als einem Film gesprochen, indem das bewegliche Element nicht das Bild, sondern der Besucher ist. Die Art, wie die Szenografie den Einfluss der Bilder aufeinander und ihre Wirkung auf den Betrachter aktiviert, erinnert an den Kuleschow-Effekt – benannt nach dem sowjetischen Regisseur, der 1921 das entsprechende Experiment durchgeführt hat: Drei unterschiedliche Einstellungen – ein Teller Suppe, eine Kinderleiche in einem Sarg und eine sich lasziv auf einem Diwan rekelnde Frau – werden mit der Großaufnahme des vollkommen ausdruckslosen Gesichts von Schauspieler Iwan Mosschuchin kombiniert. Kuleschow zeigt die drei Sequenzen seinen Studenten und bittet sie, diese zu kommentieren. Alle sind sich einig: Der Schauspieler macht einen brillanten Job. In jeder einzelnen Einstellung gelingt es ihm, Hunger, Trauer und Verlangen perfekt auszudrücken … Dabei handelt es sich jedes Mal um dasselbe Gesicht mit demselben Ausdruck. Auf diese Weise unterstreicht Kuleschow die entscheidende Rolle der Montage und ihren Einfluss auf die Bedeutung, denn das menschliche Gehirn versucht automatisch, einer Aneinanderreihung von Bildern einen logischen Sinn zu geben, selbst ohne direkte Verbindung zwischen ihnen. So vermag es die Montage, Emotionen zu erzeugen und eine Bedeutung zu entwickeln, die nicht im Bild allein liegt, sondern in der Art und Weise, wie mehrere Bilder angeordnet sind und miteinander interagieren.
Steichens „The Family of Man“ ist daher eine zutiefst ungewöhnliche und visionäre Ausstellung. Sie bringt den Fotojournalismus ins Museum und hinterfragt die Grenzen zwischen Kunst und Dokument, lässt die singuläre Arbeit des Künstlers zugunsten des globalen Konzepts verblassen und will ausnahmslos alle ansprechen, ohne Unterschied.
Die Welt in Bildern entdecken: eine Ausstellung auf Reisen
Zwischen 1955 und 1964 zieht die Ausstellung um die Welt und macht Halt in Ländern wie Indien, Russland, Frankreich, Simbabwe, Südafrika, Mexiko, Deutschland, Japan, Australien … Zehn nahezu identische Kopien zirkulieren in knapp 160 Städten. Jede einzelne dieser Kopien wiegt anderthalb Tonnen, ist in dreiundzwanzig Kisten verpackt und verlangt eine Aufbauzeit von mehr als 10 Tagen.
Installation view of the exhibition "The Family of Man" (travelling exhibition organized by MoMA, NY) in Guatemala, Guatemala City, Palacio Protocolo, August 24 through September 18, 1955 © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
Packing crates from the circulating exhibition file "The Family Man, I, II". New York, Museum of Modern Art (MoMA). © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
Die Ausstellung in Südafrika
Im Jahr 1958 wird Steichens Ausstellung in Johannesburg in Südafrika gezeigt, zu Zeiten der Apartheid. Diese Form der Rassentrennung, wie sie auch anderswo auf der Welt zu finden war, beispielsweise in den USA, setzt ab 1948 auf eine Politik der separaten Entwicklung nach ethnischen und sprachlichen Kriterien. Die Bevölkerung ist in vier Hauptkategorien eingeteilt: Weiße, Asiaten, Farbige und Schwarze. Die Städte sind den Weißen vorbehalten, andere Gemeinschaften werden in Ghettos abgeschoben, die Kontakte zwischen Weißen und Nicht-Weißen sind stark eingeschränkt, sowohl im Alltag als auch auf nationaler Ebene. Südafrika hat zudem von der Annahme der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen Abstand genommen – in Ablehnung des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz ohne Unterschied nach Geburt oder Rasse. „The Family of Man“ erreicht dieses Land mit ihrer Botschaft von Gleichheit und Einheit in finsterer Zeit und bleibt nicht ohne Wirkung: Ein Journalist der Johannesburg Sunday Times meint: „Ich schreibe diese Zeilen, noch tief beeindruckt von einer Ausstellung, die das Gesicht Südafrikas verändern könnte, wenn sie nur von den richtigen Personen gesehen, empfunden und verstanden würde … und ich sage, dass sie das Gesicht Südafrikas verändern könnte, weil jeder, der sie sehen und ihre Botschaft verstehen würde, im Grunde seines Herzens nie wieder Rassenhass empfinden könnte.“ Die Johannesburg New Age, eine kommunistisch geprägte Zeitung, behauptet: „Diese Ausstellung müsste jeder besuchen dürfen. […] Sie öffnet uns die Augen. […] Die gesamte Ausstellung ist Zeugnis dafür, dass alle Menschen Brüder sind.“
Installation view of the exhibition 'The Family of Man' (travelling exhibition organized by MoMA, NY), at Government Pavilion, Johannesburg, Union of South Africa, August 30 through September 13, 1958 © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
Ich bin tief berührt von dieser Ausstellung, die ich wirklich bewundernswert finde. Mir scheint, sie ist nicht nur in technischer Hinsicht bemerkenswert, sondern – und das ist womöglich das Wichtigste – auch eine Lektion über menschliche Brüderlichkeit.
Fernando Debessa für den Chilean Playwright
Mit Unterstützung der United States Information Agency (USIA), einer amerikanischen Regierungsbehörde, die inmitten des Kalten Krieges gegründet wurde, um der sowjetischen Propaganda im Ausland ein positives Image der USA gegenüberzustellen, geht die Ausstellung auf Reisen. Die Beteiligung der USIA an der Verbreitung von „The Family of Man“ sorgt jedoch für einigen Wirbel. Manch einer wirft der Ausstellung vor, politisch gefärbt zu sein, ein nahezu ausschließlich westlich geprägtes Menschheitsbild zu vermitteln und der Propagierung eines amerikanischen Ideals zu dienen. Wie dem auch sei, eines steht fest: Die Ausstellung erfüllt die Erwartungen einer durch den Kalten Krieg angeschlagenen US-Diplomatie.
Die Ausstellung in der UdSSR
Im Jahr 1959 erreicht die Ausstellung mit ihrer universellen Friedensbotschaft einer geeinten Welt Moskau und wird dort im Rahmen der American National Exhibition gezeigt, einer Veranstaltung zur Präsentation industrieller und kultureller Produktion aus den USA. Diese soll in die Geschichte eingehen aufgrund der Kitchen Debate, einer improvisierten Diskussion in einer im General Electric-Pavillon nachgebauten typisch amerikanischen Küche. Der zur Eröffnung angereiste US-Vizepräsident Richard Nixon und der KPdSU-Parteichef Chruschtschow zählen dabei die Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen Systeme auf und gelangen zu dem Schluss, dass sich ihre Nationen einander annähern müssten. Damit war der Grundstein für eine Erwärmung der Beziehungen zwischen Ost und West gelegt.
Vor diesem Hintergrund also trifft „The Family of Man“ auf die, um die es ihr geht: Knapp 10 Millionen Menschen besuchen in dieser Zeit jene Ausstellung, die nicht den Moment, sondern die Menschheit – lebendig und in ständigem Wandel begriffen – in all ihrer Komplexität einzufangen versucht.
Installation view of the exhibition 'The Family of Man' (travelling exhibition organized by MoMA, NY), at Government Pavilion, Johannesburg, Union of South Africa, August 30 through September 13, 1958 © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence
Installation view of the exhibition 'The Family of Man' (travelling exhibition organized by MoMA, NY). Takashimaya Department Store, Tokyo (Japan), March through April 1956 © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence