Innovativ, visionär, umstritten, produktiv, einflussreich, vielseitig, passioniert und auf die Vereinbarkeit des kommerziellen und künstlerischen Charakters der Fotografie bedacht – so hat der unermüdlich experimentelle, allzu verkannte Künstler Edward Steichen die größten Ereignisse seiner Zeit durchlaufen. Er hat die entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts, sowohl für die Geschichte als auch für die Kunst, hautnah miterlebt und war dabei in erster Linie ein Zeitzeuge mit Scharfblick, der unablässig den Facettenreichtum dieser Welt zum Ausdruck bringen wollte.
Edward Steichen, Self-Portrait with Studio Camera, 1917 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
1879-1894: Im Herzen der Welt das Licht der Welt erblicken
Edouard Jean Steichen wird am 27. März 1879 in Bivingen, Luxemburg, geboren. Er ist knapp zwei Jahre alt, als seine Eltern infolge der großen europäischen Migrationen in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) auswandern – beseelt von der Hoffnung auf ein besseres Leben jenseits des großen Teichs. Für den jungen Edouard ist es die erste Reise von vielen, die ihn zeit seines Lebens zwischen der Alten und der Neuen Welt hin- und herpendeln lassen.
In den USA lässt sich die Familie in Hancock im Bundesstaat Michigan nieder. Als zweites Kind wird Tochter Lilian geboren. Edouards Mutter startet ein kleines Unternehmen als Hutmacherin. Als entschlossene, pragmatische und weltoffene Frau verwaltet sie die Finanzen der Familie und setzt sich für feministische Anliegen ein, insbesondere für das Frauenwahlrecht.
Edward Steichen, Jean-Pierre Steichen, Bequest of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Mary Steichen, Bequest of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Self-Portrait with Sister, 1899, Bequest of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Der Vater ist verträumter. Er arbeitet in einer Kupfermine und ist gesundheitlich recht angeschlagen. Er kümmert sich ausgiebig um seinen Garten und gibt dabei seinen Kindern die Leidenschaft für Pflanzen weiter. Edouard besucht das katholische Pio Nono College, wo er sich aber langweilt und die strikten Regeln nur schwer beherzigen kann – weshalb er schnell auffällt, sowohl wegen seiner zahlreichen Streiche als auch aufgrund seines künstlerischen Talents.
Das Kind vor dem Künstler
Die größten Künstler sind nicht immer die artigsten … Eher im Gegenteil! Auch Edouard stellt da in Kindertagen keine Ausnahme dar. Seine Familie nennt ihn liebevoll „Gaesjack“ (alter luxemburgischer Begriff) oder „Gaassejong“, was so viel bedeutet wie Schlingel, da er immer zu Späßen aufgelegt ist.
Seine Lehrer und seine Mutter bestärken ihn darin, seine malerischen und zeichnerischen Fähigkeiten auszubauen, und er begeistert sich für diese Aktivitäten, selbst wenn er mitunter nicht davor zurückschreckt, seiner Kreativität einen kleinen Schubs zu geben …
Kleiner Kunstschwindel
In seiner Autobiografie gibt Steichen zu, dass er eines Tages, als er für einen seiner Lehrer Tulpen zeichnen sollte, die Blumen aus einem Pflanzenkundebuch abgepaust und anschließend die Konturen ausradiert hat.
1895-1899: Erste Erfahrungen in Malerei und Fotografie
Im Alter von 15 Jahren verlässt er die Schule und beginnt eine Ausbildung zum Drucker und Lithografen an der American Fine Art Company. Schnell entdeckt sein Arbeitgeber sein Talent und seine Kreativität. Er bietet ihm die Möglichkeit, erste Einblicke ins Design zu gewinnen, was ihm eine erste Auszeichnung für die Gestaltung eines Briefumschlags einbringt. Der junge Steichen beginnt, selbst Werbeplakate und andere grafische Medien zu gestalten, u.a. für den kleinen Hutladen seiner Mutter. Hier setzt er sich ein erstes Mal mit der Beziehung zwischen Wort und Bild, zwischen Kunst und Kontext auseinander.
Lithografie
Die Lithografie ist ein Vervielfältigungsverfahren, das darin besteht, mithilfe einer Presse Texte oder Zeichnungen auf Papier zu drucken, die zuvor mit Fettfarbe oder Fettstift auf Kalkstein aufgetragen wurden.
Abführmittel
Edouard entwirft für das Abführmittel Cascarets ein verblüffendes Werbeplakat: Es setzt sich zusammen aus einem Element des Gemäldes „Die Geburt der Venus“ aus dem 19. Jahrhundert von Alexandre Cabanel und dem Spruch „Sie (die Abführtabletten) wirken, während Sie schlafen“. Mit seiner inzwischen charakteristischen Nonchalance bricht Steichen das Tabu bei einem heiklen Thema. Zwei Jahre später wird diese Werbung sogar über 6 Stockwerke und einen Häuserblock in New York gespannt.
Edward Steichen, Advertisement, American Fine Art Company, 1899
Edward Steichen, My Little Sister, 1895 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Portrait Study, 1898 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Während er sich weiter der Malerei widmet, versucht er sich nebenher als Fotograf, doch sein Debüt enttäuscht ihn: Er kauft eine Kodak-Kamera und fotografiert wahllos alles, was ihn zu Hause umgibt. Er verschießt den ganzen Film. Bei der Entwicklung ist jedoch nur eine einzige Aufnahme von ausreichender Qualität, um zum Abzug zu werden: Seine erste Fotografie mit dem Titel „My Little Sister“ zeigt ein Porträt von Lilian am Klavier. Edouard ist zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt und soll ab da nie wieder mit dem Experimentieren in Malerei und Fotografie aufhören, wobei er sich anfänglich auf natürliche Darstellungen seiner Umwelt und seines Umfelds konzentriert.
Im Alter von 18 Jahren realisiert der aufstrebende junge Künstler das Selbstbildnis „Portrait Study“, das beim Philadelphia Salon ausgezeichnet wird. Dennoch sorgt die Arbeit für eine Kontroverse in der Welt der Fotografie, da Perspektive, Bildausschnitt und Komposition für die damalige Zeit ungewöhnlich sind.
Definition der Fotografie
Was ist Fotografie? Zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern phôs, phôtós („Licht“) und gráphô („schreiben“), bedeutet Fotografie wörtlich „mit Licht schreiben“. Im Jahr 1826 von Joseph Niépce an der Schnittstelle von Optik und Chemie erfunden, versteht man darunter ein technisches Verfahren, bei dem mithilfe von Licht Bilder auf einem Träger fixiert werden. Seit ihrer Entdeckung hat sich die Fotografie ständig weiterentwickelt, mit den sukzessiven Erfindungen des Negativs, des flexiblen Bildes, der Farbe, des Films, der Sofortbildkamera, der 3D- und Digitalfotografie, der computergenerierten Bilder und der Astrofotografie. Und es geht weiter … Heute unterscheidet man zwischen Analog- und Digitalfotografie. Das Prinzip ist unverändert: Es geht um das Einfangen und Fixieren des Lichts, das jedes Objekt reflektiert (was im Übrigen dafür sorgt, dass wir es mit unseren eigenen Augen sehen). Nur die Art und Weise ist verschieden. Bei der Analogfotografie fällt Licht durch eine Linse auf einen lichtempfindlichen Bildträger, den Film, der im Anschluss in ein Bad aus Chemikalien getaucht werden muss, um das Bild sichtbar zu machen. Diesen Vorgang nennt man Entwicklung. Bei der Digitalfotografie wird der Film durch Sensoren ersetzt, die das Licht in elektrische Signale umwandeln. Dabei entstehen Pixel, die zusammengesetzt dann das Bild ergeben.
1900-1902: Die Jahrhundertwende prägen, mit einem Fuß in jeder Welt
Zur Jahrhundertwende, an seinem 21. Geburtstag, nimmt Edouard Steichen die amerikanische Staatsbürgerschaft an und wird Edward Steichen. Während mehrere seiner Ausstellungen beim Philadelphia Salon, beim Chicago Salon und in privaten Kreisen auf wachsende Begeisterung stoßen, begibt sich der Künstler noch im selben Jahr mit seinem besten Freund auf eine Radtour durch Europa. Es ist der Beginn eines neuen Lebens zwischen Europa und den USA – bedingt durch Begegnungen, Ereignisse und Inspirationen.
In Paris lernt Steichen Rodin kennen. Zwischen künstlerischer Zusammenarbeit und aufrichtiger Freundschaft entwickeln beide ein sofortiges Interesse am jeweils anderen. Steichen nennt später seine Tochter sogar Kate Rodina, zu Ehren ihres Paten Rodin. Der Fotograf beobachtet fasziniert, wie der Bildhauer seine Rohlinge bearbeitet, und letzterer ist gefesselt von der Art und Weise, wie ersterer beim Einfangen des Moments seiner schöpferischen Vorstellungskraft freien Lauf lässt. Fast ein Jahr lang fotografiert Steichen Rodin und seine Werke in dessen Werkstatt.
Carl Björncrantz, Edward Steichen on a bike
Edward Steichen, Rodin—The Thinker, 1902 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Ferner besucht er Malkurse an der Académie Julian, die er aber schnell wieder verlässt, weil er sie als zu akademisch empfindet. Als gut integriertes Mitglied der umtriebigen Kunst-, Kultur- und Intellektuellenszene im Paris der Vorkriegszeit fotografiert er zahlreiche Persönlichkeiten wie Anatole France, Richard Strauss oder Henri Matisse.
Der Salon du Champ-de-Mars in Paris
Für den Pariser Salon du Champ-de-Mars, der Werken der bildenden Kunst vorbehalten ist, reicht Steichen stark retuschierte Fotografien ein, die er als Bildkreationen präsentiert. Die Jurymitglieder, allesamt Maler, nehmen seine Vorschläge begeistert an. Als sie die Täuschung im letzten Moment bemerken, wird keines seiner Werke ausgestellt. Vielmehr wird Steichen zum zentralen Objekt einer Kontroverse um den Eintritt der Fotografie in die schönen Künste – mit internationaler Medienwirkung. Dieser Fall bringt ihm den Spitznamen „Enfant terrible der Fotografie“ ein.
1903-1922: Zwischen den USA und Frankreich, Inspirationen und Experimente
Im Jahr 1902, als seine erste Einzelausstellung mit Exponaten aus Fotografie und Malerei in Paris in vollem Gang ist, kehrt Steichen nach New York zurück. Er heiratet die Tänzerin Clara Smith, die ihm zwei Töchter schenkt, und eröffnet sein eigenes Studio als Fotograf und Porträtist. Auf Einladung von Alfred Stieglitz, Fotograf und Herausgeber der Zeitschrift Camera Work, tritt er der piktorialistischen Bewegung „Photo Secession“ bei, die sich die Förderung der Fotografie als moderne Kunst zum Ziel gesetzt hat. So stellt sich Steichen in einem piktorialistischen Selbstporträt als Maler dar, während er als Medium die Fotografie wählt.
Piktorialismus
Unter Piktorialismus versteht man die erste Stilrichtung der Kunstfotografie und die erste internationale Bewegung dieser Kunst. Diese Strömung setzt sich dafür ein, dass die Fotografie als Kunst anerkannt wird und nicht auf die mechanische Abbildung einer Realität reduziert wird. Die Piktorialisten behandeln das Motiv, indem sie es auf Maler-Manier ästhetisch neu interpretieren und in der Dunkelkammer derart retuschieren, dass das Foto zu einem Werk künstlerischen Schaffens wird. So ist Unschärfe beispielsweise ein „Erkennungsmerkmal“ von Kreativität im Gegensatz zur Schärfe einer rein mechanischen Wiedergabe.
Edward Steichen, Brooklyn Bridge, 1903 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Cover entworfen von Edward Steichen
Edward Steichen, Le Tournesol (1920) © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Self-Portrait with Brush and Palette, 1903 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Gemeinsam eröffnen sie 1905 die Galerie für moderne Kunst „The little Galleries of the Photo-Secession“ oder „Gallery 291“. Sie liegt in der Fifth Avenue 291 in New York, wo sich zuvor Steichens Studio befand. Steichen berät Stieglitz bei der Wahl der auszustellenden Künstler und mutiert zum Botschafter der „french connection“, indem er viele verschiedene moderne Künstler einlädt, ihre Werke auszustellen: Henri Matisse, Paul Cézanne, Pablo Picasso, Brâncuși …
Ich bin der festen Überzeugung, dass Kunst kosmopolitisch ist. Man muss sich mit allem befassen. Ich hasse Spezialisierung, sie ist der Ruin der Kunst.
Edward Steichen
Es folgt eine intensive fotografische Arbeit zwischen Paris und New York, bei der sich Steichen als Avantgardist und Tausendsassa mit explodierender Neugierde und größerer Leidenschaft denn je entfaltet und mit zahlreichen neuen Techniken, z.B. dem Autochromverfahren, experimentiert und in alle Bereiche der Fotografie vordringt.
Eine der teuersten Fotografien der Welt
Die Fotografie mit dem Titel „The Pond-Moonlight“ zeigt einen Teich vor einer bewaldeten Fläche im Mondschein: Das Licht des Mondes fällt durch die Bäume und spiegelt sich im Wasser. Obwohl das Autochromverfahren, das erste Verfahren zur Fertigung farbiger Fotografien, erst 1907 aufkommt, gelingt es Steichen, einen farbigen Eindruck zu erzeugen, indem er eine lichtempfindliche Gummiemulsion schichtweise von Hand aufträgt. Als die Aufnahme 1904 entsteht, arbeiten recht wenige Fotografen mit dieser experimentellen Technik. Es gibt nur drei bekannte Abzüge dieses Fotos (zwei davon in Museen), und da die Gummiemulsion jeweils von Hand aufgetragen wurde, ist jedes Exemplar einzigartig. Das Bild wird 2006 von Sotheby’s für 2,9 Millionen Dollar versteigert und erzielt somit den bis dahin höchsten Preis für eine Fotografie bei einer Versteigerung.
Edward Steichen, Moonrise—Mamaroneck, New York, 1904 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Er macht Porträts wie das von JP Morgan, das als Klassiker unter den Fotoporträts gilt, von politischen Persönlichkeiten der sozialistischen Partei, der er wie seine Schwester und seine Mutter beitritt, von US-Präsident Theodore Roosevelt …
Der Fall JP Morgan
Als der Auftrag für ein Porträt von JP Morgan eingeht, ist Steichen auf alles vorbereitet – außer auf die Launen seines Modells. Vor dem Shooting bestimmt er Einstellungen und Position der Kamera und benutzt dazu als Referenz den Hausmeister, um die Wartezeit des Finanzmagnaten möglichst gering zu halten. Bei der zweiten Aufnahme jedoch verärgert er JP Morgan ein wenig, woraufhin dieser leicht aggressiv dreinschaut. Zudem vermittelt die auf die Armlehne gerichtete Beleuchtung den Eindruck, als halte dieser einen Dolch. JP Morgan zerreißt das zweite Bild, was Steichen den Wert dieser Aufnahme erahnen lässt. Er macht einen neuen, größeren Abzug und gibt ihn Stieglitz, damit dieser ihn als „Meisterwerk der piktorialistischen Fotografie“ ausstellt. Als JP Morgan realisiert, dass sein Porträt als Meisterwerk gilt, möchte er es kaufen. Erst einige Jahre später willigt Steichen ein und verkauft ihm einen Abzug.
Edward Steichen, J.Pierpont Morgan, 1903, Bequest of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Gestaltung eines Kinderbuchs
Im Jahr 1930 gestaltet Edward Steichen mit seiner Tochter, der Psychologin Mary Steichen Calderone, ein Kinderbuch: The First Picture Book, Everyday Things for Babies. Es enthält keinen Text, nur 24 Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Alltagsgegenständen: einem Teddybär und einem Ball, einem Zug aus Holz, einer Seife … Die im künstlichen Licht eines Studios entstandenen Nahaufnahmen sind objektiv, auf nahezu wissenschaftliche Art emotionslos, und zeigen die Dinge außerhalb ihres üblichen Kontexts. Das Werk ist alles andere als ein einfaches Bilderbuch. Es steht für eine gewisse Vision von Bildung, die das Kind dazu bringen soll, nicht nur passiv zu schauen, sondern die Welt um es herum mit seinen fünf Sinnen entdecken und versuchen zu wollen, sich aktiv der Gegenstände in seiner Umwelt zu bedienen.
Edward Steichen, Shoes and Socks - The First Picture Book, 1930 Bequets of Edward Steichen/Collection MNHA Luxembourg © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Steichen wendet sich ebenfalls der experimentellen Fotografie von Gegenständen und Formen zu. Darüber hinaus schwärmt er für Aufnahmen von Insekten, Blumen und Pflanzen und mietet ab 1908 einen Bauernhof in Voulangis im Großraum Paris. Dort widmet er sich Experimenten in der Pflanzen- und Gemüsezucht und gewinnt renommierte Preise wie die Pariser Goldmedaille für seine Rittersporn-Hybriden oder den Preis für die beste Kartoffelernte (Seine-et-Marne).
Edward Steichen, Lotus, Mt. Kisco, New York, 1915 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Dana Steichen, Edward Steichen with delphiniums, c.1938, Umpawaug House (Redding, Connecticut) © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Delphiniums, 1940 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Blumen züchten hat mich mehr über die Menschen und die Natur gelehrt, als Sie glauben würden.
Edward Steichen
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, kehrt er in die USA zurück und tritt als Leutnant in die fotografische Abteilung des U.S. Army Signal Corps ein. Diese überwacht die Fotografie der Luftaufklärung in Frankreich. Er geht aus diesem Konflikt als gebrochener Mann hervor, verhärmt und verbittert, was zum Ende seiner ersten Ehe führt. All seiner Illusionen beraubt, verbrennt er seine Gemälde im Garten des Ateliers in Voulangis. Er beschließt sich ausschließlich der Fotografie zu widmen, bricht mit dem Piktorialismus und verschreibt sich der „straight photography“. Es ist ein echter Wendepunkt in seiner Karriere.
"Straight photography"
Obwohl ihre Anfänge auf die Vorkriegsjahre zurückgehen, wird diese künstlerische Strömung erst während des internationalen Konflikts wirklich bedeutend und boomt unter Fotografen wie Stieglitz oder Paul Strand. Im Gegensatz zum Piktorialismus feiert die „straight photography“ das Foto als das, was es ist – eine Aufnahme ohne Kunstgriffe und Nachbearbeitung bei der Entwicklung. Das Reale wird also allein durch das Objektiv der Kamera und das Auge des Fotografen eingefangen, die seine Strukturen, sein Licht und seine Formen offenbaren, um eine einzigartige Komposition zu ergeben. Dank lichtempfindlicherer Filme und leichterer Ausstattung wird die Fotografie alltagstauglich und zeigt, was die Welt an Realistischem und Objektivem, aber auch an Grafischem und Ästhetischem, ja Abstraktem zu bieten hat.
Edward Steichen, Milk Bottles: Spring, New York (1915) © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Unknown photographer, Captain Edward Steichen and Camera, Serving with the American Expeditionary Forces in France, 1918. Helga Sandburg Crile Collection
Edward Steichen, Untitled (Vaux), 1918/19 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
1923-1938: Die kapitalistische Konsumgesellschaft als Vehikel für soziale Kämpfe
Im Jahr 1923, an seinem 44. Geburtstag, geht Steichen seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Dana Desboro Glover ein. Das Paar lässt sich dauerhaft in New York nieder. Von 1923 bis 1938 arbeitet Steichen für den Condé Nast-Verlag und wird dort Cheffotograf. Er inszeniert Modestrecken und macht Aufnahmen von Prominenten und Kinostars wie der Schauspielerin Greta Garbo, die in der Vogue veröffentlicht werden, deren erstes Farbcover er 1932 gestaltet. Zudem arbeitet er für die Vanity Fair und wird zum bestbezahlten Fotografen seiner Generation.
Edward Steichen, Greta Garbo (for Vogue), 1928 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Edward Steichen, Actor Paul Robeson in costume for Eugene O'Neill's "The Emperor Jones," and looking over the collar of his millitary jacket, Vanity Fair 1933, Condé Nast © Getty Images
Das alles lässt ihn nicht von seinen Überzeugungen abrücken. Neben den Porträts afroamerikanischer Persönlichkeiten, die er ab den 1920er Jahren macht, veröffentlicht er 1924 in der Vanity Fair erstmals ein ganzseitiges Porträt der afroamerikanischen Künstlerin Florence Mills. Hinzu kommt auch ein Porträt von Paul Robeson, der 1933 als erster afroamerikanischer Schauspieler eine Hauptrolle in einem amerikanischen Film spielt.
Der Prozess Brâncusi gegen die USA
Im Jahr 1926 erwirbt Steichen die Skulptur „Bird in Space“ von Brâncuși und möchte sie in den USA, in der Gallery 291, ausstellen. Aber der Zoll lehnt eine Angabe als Kunstwerk ab und verlangt eine Gebühr von 600 Dollar, um die Skulptur einzuführen. Er ist der Auffassung, es handle sich um ein Küchenutensil. Die Angelegenheit mündet in einem Gerichtsverfahren, in dem es zu klären gilt, was ein Kunstwerk ist und welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit es als solches betrachtet werden kann.
Edward Steichen, Brancusi's Studio, 1920 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Mit dem Kauf eines Hauses in Redding im Bundesstaat Connecticut, das 1938 sein endgültiges Zuhause wird, verlässt er Condé Nast und gibt sich ganz seiner Leidenschaft für die Pflanzenkunde hin. Er nimmt die Rittersporn-Zucht wieder auf und treibt seine Passion so weit, dass er 1936 eine einwöchige Ausstellung im MoMA organisiert. Dort präsentiert er die eigens von ihm herangezüchteten Blumen. Von 1935 bis 1939 ist er sogar Vorsitzender der American Delphinium Society.
This is Edward Steichen television special produced by WCBS-TV, originally broadcast April 12, 1965. American photographer, Edward Steichen at his property, Umpawaug, in Redding, Connecticut. Shown here with his Irish Wolfhound, Finn Tan. Image dated March 25, 1965. (Photo by CBS via Getty Images)
1938-1947: Wenn Engagement zur Kunst wird
Weit davon entfernt, die Kunst von der Realität, den Problemen seiner Zeit und den großen Fragen zu trennen, die die Gesellschaft in diesen Jahren umtreiben, setzt sich Steichen für Anliegen wie den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und soziale Ungleichheiten ein, die seine fotografische Arbeit und seine Vernetzung befeuern.
Die Kunst um der Kunst willen ist gestorben, wenn sie denn jemals existiert hat.
Edward Steichen
Victor Jorgensen, Commander Aboard USS Lexington. Commander Edward Steichen stands on a platform overlooking the deck of the USS Lexington. Propellor airplanes are on the deck, 1943 © CORBIS/Corbis via Getty Images
Während des Zweiten Weltkriegs, im Alter von 62 Jahren, tritt er der U.S. Navy als Leiter der Naval Aviation Photographic Unit bei. Damit beeinflusst er das ideologische und ästhetische Bild des Krieges aus amerikanischer Sicht. Auch dieser Konflikt hinterlässt seelische Narben. Steichen entwickelt eine tiefe Abneigung gegen den Krieg, was ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Fotografie eine Rolle spielen muss, damit es nie wieder zu einer solchen Tragödie kommt.
1947-1973: Die Krönung – Berufung ans MoMA und Werk seines Lebens
Im Jahr 1947 wird Steichen zum Direktor der Fotografieabteilung des Museum of Modern Art (MoMA) in New York ernannt. Bis 1962 legt er in dieser Funktion seine eigene Karriere als Fotograf auf Eis, um jungen Talenten zu größerer Bekanntheit zu verhelfen.
Er kuratiert 44 Ausstellungen in 15 Jahren und veröffentlicht seine Autobiografie „A Life in Photography“, die Geschichte eines Mannes, dessen Leben verschmilzt mit der Erschaffung einer besonderen Kunst. Im Jahr 1951, mitten im Kalten Krieg, organisiert er seine 3. Ausstellung im MoMA, „Korea – The Impact of War“, die nicht den von ihm erhofften Erfolg verbucht.
Steichen wendet sich daraufhin einem neuen Ziel zu und beginnt mit der Vorbereitung seines Projekts „The Family of Man“. Auf Reisen durch Europa und die USA sammelt er die Aufnahmen für jene Ausstellung, die von 1955 bis 1965 im MoMA und anschließend überall auf der Welt zu sehen ist. Mit ihr konkretisiert sich seine Herzensangelegenheit: Er erforscht das Potenzial der Fotografie als Kommunikationsmittel sowie ihre Wirkung auf eine Welt, der sie den Spiegel vorhält.
Ezra Stoller, Entrance of the exhibition "The Family of Man" at the MOMA, 1955 © Esto
Photographer Edward Steichen (standing, center), director of photography at New York's Museum of Modern Art, assembles some of the photographs to be included in the Family of Man exhibition at the museum, New York, January 25, 1955 © Getty Images
Als ich mich der Fotografie zuwandte, war es mein Wunsch, sie als Kunst anerkannt zu sehen. Heute würde ich für dieses Ziel keinen Pfifferling geben. Die Aufgabe des Fotografen ist es, dem Menschen den Mensch zu erklären und ihm zur Selbsterkenntnis zu verhelfen.
Edward Steichen
Die Ausstellung vereint 503 Aufnahmen von 273 Profi- und Hobbyfotografen aus 68 Ländern. Sie wird in knapp 160 Museen gezeigt und zieht binnen 10 Jahren mehr als 10 Millionen Besucher an.
Im Jahr 1957 stirbt seine zweite Frau und lässt Steichen nach 34 Jahren Ehe erschüttert zurück. Doch er traut sich erneut: 1960 ehelicht er die 54 Jahre jüngere Joanna Taub. Im Jahr 1961 realisiert er seine letzte Ausstellung im MoMA mit dem nüchternen Titel „Steichen the Photographer“. Danach tritt er in den Ruhestand, wird Director Emeritus des MoMA und sammelt die Aufnahmen für seine letzte Ausstellung als Kurator: „The Bitter Years“. Im Jahr 1964 öffnet im MoMA das Edward Steichen Photography Center seine Pforten.
Edward Steichen stirbt am 25. März 1973, zwei Tage vor seinem 94. Geburtstag. Was er der Fotografie hinterlassen und uns über ihre Tragweite zu verstehen gegeben hat, prägt nach wie vor Generationen von Fotografen, und sein Vermächtnis bleibt in Luxemburg lebendig.
Steichens Vermächtnis in Luxemburg
Steichens Werk ist in Luxemburg omnipräsent. Das Nationalmuseum für Geschichte und Kunst (MNHA) besitzt eine Sammlung seiner persönlichen und künstlerischen Werke, die einen breiten Überblick über sein Schaffen bieten und in regelmäßigem Wechsel in einer dem Fotografen gewidmeten Galerie ausgestellt werden. Diese Ausstellungen zeigen auch Fotografien des Künstlers, die aus einer Sammlung der Stadt Luxemburg stammen. In der Galerie „Am Tunnel“ der Spuerkeess ist eine Auswahl seiner Werke in einer Dauerausstellung zu sehen. Und zwei der Ausstellungen, die er für das MoMA als Kurator des New Yorker Museums zusammenstellte, werden vom Nationalen Institut für Bild und Ton (CNA) verwaltet: „The Family of Man“ ist im Schloss von Clerf zugänglich, und seine letzte Ausstellung aus dem Jahr 1962, „The Bitter Years“, wird derzeit im Archiv des Instituts sorgfältig konserviert.
Howard Sochurek, Photographer Edward J. Steichen © The LIFE Picture Collection via Getty Images