Inspirationen und Fehlschläge: von der Kriegserfahrung zum Pazifismus
The Family of Man ist eng verbunden mit der persönlichen Entwicklung Steichens, seinen Erfahrungen während des Krieges, dem Kontext der 1950er Jahre und seiner Berufung ans MoMA im Jahr 1947.
Während des Zweiten Weltkriegs tritt er der U.S. Navy als Leiter der Naval Aviation Photographic Unit bei und wird zum Direktor des U.S. Navy Photographic Institute ernannt. In diesem Rahmen setzt er seine künstlerische Arbeit durch die Linse des Krieges fort und schafft die Ausstellungen „Road to Victory“ und „Power in the Pacific“. Zudem übernimmt er die Aufsicht des Dokumentarfilms „The Fighting Lady“, der 1945 mit dem Oscar in seiner Kategorie ausgezeichnet wird.
Installation view of the exhibition 'Road to Victory', MoMA, NY, May 21 - October 4, 1942. © 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala,
Florence
Victor Jorgensen, Commander Aboard USS Lexington. Commander Edward Steichen stands on a platform overlooking the deck of the USS Lexington. Propellor airplanes are on the deck, 1943 © CORBIS/Corbis via Getty Images
Das MoMA
Das Museum of Modern Art von New York wurde 1929 gegründet und gilt heute als eines der bedeutendsten und einflussreichsten Museen der Welt. Es beheimatet Sammlungen jeglicher Kunstgattungen und hatte – hat noch immer – den Anspruch, avantgardistische Werke zu fördern und auszustellen, um die Arbeit moderner und zeitgenössischer, ja sogar unbekannter, Künstler hervorzuheben. Das Museum ist eine moderne Institution, die von Beginn an fotografische Werke gesammelt hat und bereits zu einem wichtigen Zentrum für die Verbreitung der Fotografie des 20. Jahrhunderts avanciert ist, als Steichen dort ankommt. Dennoch ist seine Ernennung zum Direktor der Fotoabteilung umstritten. Von seinen Erfahrungen im militärischen und kommerziellen Bereich beeinflusst, betrachtet Steichen die Fotografie nicht nur als Mittel künstlerischen Ausdrucks, sondern auch als Kommunikationsmedium.
Im Jahr 1947 realisiert Steichen für das MoMA die Ausstellung „Korea – The Impact of War“, die nicht die erhofften Reaktionen hervorruft. Er lernt eine Lektion, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt, und ihn zum Projekt „The Family of Man“ inspiriert:
„The Family of Man“ war das wichtigste Projekt meiner Karriere. In gewisser Weise ging es hervor aus den vielen Kriegsausstellungen, die ich zuvor organisiert hatte. Die Menschen strömten in Scharen herbei, um sie zu sehen. Gewisse Bilder fanden sie abstoßend, andere extrem rührend. Manche Besucher weinten sogar, aber dabei blieb es dann auch. Sie verließen die Ausstellung, und alles war vergessen. Obwohl ich in drei Ausstellungen den Krieg in all seiner Grausamkeit dargestellt hatte, war mein Auftrag nicht erfüllt. Ich hatte die Menschen nicht dazu gebracht, mit geeinten Kräften gegen den Krieg anzugehen. Dieser Misserfolg ließ mich den Grundgedanken meines Schaffens überdenken. Was war falsch? Ich gelangte zu dem Schluss, dass ich bis zu diesem Punkt einen negativen Ansatz gewählt hatte, wo es vielmehr auf die positive Aussage ankam, wie wunderbar das Leben doch ist, wie großartig der Mensch, und – vor allem – wie sehr sich die Menschen doch ähneln, ganz gleich, wo sie leben.
Die Ursprünge der Ausstellung: Ansatz, Recherche und Umsetzung
In diesem Kontext, geprägt von den Erfahrungen des Krieges, den Einflüssen des Fotojournalismus, dem Streben nach dem Monumentalen und vor allem dem Wunsch, eine Reaktion hervorzurufen, nimmt das Projekt der Ausstellung „The Family of Man“ für das MoMA Gestalt an.
Eve Arnold, Fischer und seine Familie – Inselmädchen, Bahia Honda, Cuba, 1954 © Magnum
Nat Farbman, Kinder beim Spielen und Toben in den Sanddünen, Botswana, 1947, Time & Life © Getty Images
David Duncan, Mann, Berge, Herde und Himmel – alle sind eins …, Quashqhai, Iran, 1946, Harry Ransom Center The University of Texas at Austin
Ab 1951 beginnt Steichen mit Unterstützung des Fotografen Wayne Miller und seiner Freundin Dorothea Lange, Bilder über die „Alltäglichkeit“ (everydayness im Englischen) zusammenzusuchen, die er als „die Schönheit der Dinge, die unser Leben erfüllen“ beschreibt. Er trägt Fotografien zusammen, indem er Anzeigen schaltet und darin zu Beiträgen aufruft oder die Archive von Agenturen wie Magnum Photos oder Time & LIFE durchforstet, um dort Aufnahmen aktueller Ereignisse zu finden. Ferner kontaktiert er Künstler wie Henri Cartier-Bresson, den er als einen der Ersten in sein großes Vorhaben einweiht.
[…] eine große Fotoausstellung, die wir hier und als Wanderausstellung in Europa zeigen werden. Das übergeordnete Thema der Ausstellung wird die Menschheitsfamilie sein … Dieses Projekt dürfte Sie interessieren, und ich würde mich über Ihre Ideen und Anregungen dazu sehr freuen.
Edward Steichen an Henri Cartier-Bresson, 1952
Mehr als 4 Jahre Arbeit, 4 bis 7 Millionen gesichtete Fotografien … Es wird alles darangesetzt, dieses umfangreiche Projekt zu realisieren – das wichtigste in puncto kulturelle Dimension, künstlerische Tragweite und dokumentarische Sammlung rund um ein und dieselbe Idee.
Homer Page, Preparations for "The Family of Man" © Homer Page Archive
Homer Page, Preparations for "The Family of Man" © Homer Page Archive
Wir erhielten Beiträge aus der ganzen Welt, Postsäcke, fast einen Meter auf einen halben Meter groß. Über Monate hinweg erreichten uns täglich mehrere Säcke dieser Größe.
Wayne Miller
Schließlich werden nicht weniger als 503 Schwarz-Weiß-Fotografien von 273 Fotografen aus 68 Ländern ausgewählt, um diesem Manifest für den Frieden und die Gleichheit der Menschen Leben einzuhauchen.
Die Wohnung über dem Nachtclub
Die Idee zur Ausstellung „The Family of Man“ ist über Jahre in Steichen herangereift. Als er beschließt, ihre Umsetzung in Angriff zu nehmen, schreckt er nicht vor der Größe der Aufgabe zurück. Aus den 4 Millionen gesichteten Aufnahmen suchen er und sein Team 10 000 aus. Aber es sind noch zu viele für ihr Büro im MoMA, sie versinken darin. Das LIFE Magazine erzählt daraufhin eine köstliche Anekdote. Zur Lösung des Problems mieten Steichen und Miller eine Wohnung über einem Nachtclub in New York und schließen sich dort ein. So arbeiten sie unermüdlich, Tag und Nacht, zum Rhythmus der Bässe, die von unten zu ihnen hinaufdringen. Sie prüfen jedes Bild und entwerfen Schritt für Schritt den Grundriss ihrer künftigen Ausstellung. Nach 20 langen Wochen ist endlich alles bereit. Im Alter von 75 Jahren hat Steichen seine verrückte Wette gewonnen. Er hat den Höhepunkt eines Lebens erreicht, das voll und ganz der Erschaffung seiner Vision von Fotografie gewidmet war. Er verlässt die Wohnung und beginnt unten auf dem Bürgersteig, vor den Augen der erstaunten Passanten, eine wilde Gigue zu tanzen.
Diese Aufnahmen lassen das Menschenbild von großen Namen der Fotografie durchscheinen: Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Dorothea Lange, Robert Doisneau, August Sander, Ansel Adams, Willy Ronis, W. Eugene Smith, Eugene Harris …
Die Ausstellung „The Family of Man“ und die Inspirationen, die diesem Projekt zugrunde liegen, sind untrennbar mit Steichens Leben verbunden. Die Ausstellung ist als Summe der beruflichen und persönlichen Erfahrungen ihres Schöpfers zu betrachten – von den familiären Einflüssen bis zu den Verletzungen des Krieges, von der Malerei bis zur Organisation von Ausstellungen, von der Objektfotografie bis zu Porträts, von der Werbung bis zur Kunst, vom Individuellen bis zum Kollektiven und so vielen anderen Facetten, die ein dem Experimentieren gewidmetes Leben unablässig erkundet und zu vereinbaren versucht hat.
Eine Lektion von Toleranz
Steichens Idee der Gleichheit aller Menschen geht auf seine früheste Kindheit zurück. Sie wurde ihm in seiner Erziehung übermittelt, noch bevor er sie selbst in seiner künstlerischen Vision entwickeln konnte. Er erzählt:
Eines Tages, ich muss 10 Jahre alt gewesen sein, kam ich von der Schule nach Hause, als ich mich an der Tür des Hutladens meiner Mutter noch einmal umdrehte und zur Straße hin rief ‘Dreckiger kleiner Jude!’ Auf der Stelle rief mich meine Mutter zu sich hinter den Tresen, wo sie dabei war, Kunden zu bedienen. Sie fragte mich, ob ich wüsste, was ich da gerade gesagt hätte. Mit kindlicher Unbedarftheit wiederholte ich die Beleidigung ihr gegenüber. Sie bat die Kunden um Entschuldigung, schloss die Ladentür und brachte mich hoch in unsere Wohnung. Dort erklärte sie mir lange, ruhig und ausführlich, dass wir alle gleich sind, ungeachtet unserer Rasse, unseres Glaubens und unserer Hautfarbe. Sie erzählte mir auch von den Übeln der Bigotterie und Intoleranz. Für mich ist dieser Vorfall einer der wichtigsten in meiner Entwicklung als Mensch gewesen, und ich bin fest überzeugt: Genau in diesem Moment ist tief in mir drin die Idee gekeimt, aus der 66 Jahre später eine Ausstellung namens „The Family of Man“ hervorgehen sollte.
Edward Steichen, My Mother, 1925 © 2021 The Estate of Edward Steichen / Artists Rights Society (ARS), New York
Dmitri Kessel, Luftaufnahme einer Jangtsekiang-Schlucht im Dunstschleier mit Flusswindung durch steile Felshänge, Szechwan, China, 1946, Time & Life © Getty Images